Start  
  .Deutsch  
  .Geschichte  
  .Informatik  
  .Politik  
  Aktuelles  
  Kuriositäten  
  Sonstiges  
  Gästebuch  


213,116 Besucher
seit April '07

letztes Update:
23.05.2018

. / .Deutsch / Rhetorik / Redeanalysen / Beispiel für moderne Demagogie: Franz Schönhuber
Stand: 20.04.2007

Franz Schönhuber:  Deutschland - wohin
             1994 - das Jahr der Entscheidung



(...) Es muß Schluß sein mit dem Aufweichen traditioneller Bindungen und Werte, Liberalität darf nicht mit Libertinage
verwechselt werden. Die schädlichen Einflüsse des American way of life, der vom Erfolgsdenken um jeden Preis
gekennzeichnet ist, müssen zurückgedrängt werden. Diese Einflüsse sind besonders stark bei Film, Funk und
Fernsehn. Beim Kampf um Einschaltquoten fallen die letzten sittlichen und moralischen Hemmungen. Die Frau wird zur
Beute lüsterner Begierden gemacht, zur Ware und zum billigen Markenartikel degradiert. Der Geschlechtsakt wird wie
bei den Affen im Zoo via Bildschirm zur Schau gestellt. Während Afrika sich anzieht und Mozart hört, ziehen wir uns aus
und entdecken die Buschtrommel als künstlerisch besonders wertvoll. Schon Kinder werden vor die Karre der
Werbeindustrie gespannt und außerdem Tag für Tag mit Gewaltdarstellungen übelsten Ausmaßes konfrontiert. Sie
verführen zur Nachahmung, und wir Bürger fördern dieses Treiben auch noch durch Bezahlung übertrieben hoher
Gebühren. Über deren Abschaffung muß intensiv nachgedacht werden.
Eine hohe Mitschuld am Niedergang der Sitten tragen die Kirchen. Sie unterwerfen sich nahezu bedingungslos dem
Zeitgeist, um von ihrem Versagen im Dritten Reich abzulenken. Auch hier gilt:
Kirchenmänner zeigten im NS-Staat mehr Haltung als ihre heutigen Nachfolger. Es sei an Kardinal von Galen oder
Pastor Niemöller erinnert. (...)
An den Pranger gestellt werden muß auch die Scheinheiligkeit vor allem von „christlichen“ Politikern, die am wenigsten
berufen sind, als Moralapostel durch die Welt zu ziehen. Ich habe es in meiner früheren Eigenschaft als Journalist
wiederholt erlebt, daß führende CSU-Politiker bei offiziellen Reisen am Zielort sich als erstes die Adresse eines Bordells
geben ließen, um dann augenzwinkernd ihre „Erlebnisse“ auszutauschen. Es sind die gleichen Politiker, die bei
Empfängen der Katholischen- oder Evangelischen Akademie mit Kind und Kegel ihre tiefe Frömmigkeit
publikumswirksam zur Schau stellen. Schlügen wir Republikaner mit den gleichen Mitteln zurück, die die etablierten
Parteien und deren Stiftungen uns gegenüber anwenden, so garantiere ich die moralische „Enthauptung” so mancher
christlicher Politiker wie auch katholischer Würdenträger, die versteckt eheähnliche Verhältnisse pflegen, von der
Kanzel herab aber die Einhaltung kirchlicher Gebote fordern.
Wir alle sind Menschen. Und wer wirft den ersten Stein? Wir nicht! Wir werfen selbst die namentlich gekennzeichneten
Steine nicht zurück, die uns treffen sollen. Wir wollen den offenen Schlagabtausch, dabei aber nicht unter die Gürtellinie
treffen. Für uns gibt es in der Politik Gegner, aber keine Feinde. (...)

aus: Der Republikaner", Offizielles Organ der Bundespartei, Januar 1994, S. 1 u. 3 (Auszug)
*Libertinage = zügellose Freiheit



Sachanalyse zum Schönhuber - Artikel


Adressat: zunächst eigene Parteianhänger; Syntax und Wortwahl legen einen  im soziologischen Sinne breiteren Adressatenkreis nahe,
politisch gesehen sind primär Sympathisanten des rechten Lagers angesprochen, insbesondere unzufriedene CSU - Wähler
(vgl. Abrenzungsstrategie).
Intention: Teil 1: Entwurf eines „Wertekatastrophenszenarios“ (Z. 1-17),Teil 2: Abwertung aller bisheriger moralischen Instanzen
durch gezielte Diffamierung (Z: 18.39).
Teil 3: Aufbau eigener moral. Kompetenz durch scheinheilige (vgl. auch Z. 24 !?) Zurückhaltung. Suggeriert wird durch eine
gleichsam syllogistische Logik die Vorstellung, dass nur die Republikaner noch den Verfall der Sitten aufhalten könnten.
Sekundärintention: Profilierung des Vorsitzenden Schönhuber, Stabilisierung und Stärkung der Zuversicht der Anhänger,
die unter dem Stigma des extremistischen Außenseitertums „leiden“ sowie mögl. Präzisierung einer Wahlkampfprogrammatik
für 1994 (vgl. Titel).
Generelle Merkmale: Reihung appellativer Aussagen, apodiktische Formulierungen im Indikativ gehalten, auffällige Pauschalisierungen,
üble Unterstellungen (argumentum ad personam), Schlussfolgerung  vom Einzelfall und grobe Vereinfachungen kommen einer
befehlserwartenden Untertanenmentalität entgegen, zumal einfache Erklärungsmuster erwartete Ordnungsprizipien begünstigen.
Syntax: mehrheitlich Parataxe, vereinzelt hypotaktische Strukturen, die sich aber auf knappe Relativsätze beschränken ;
Mischung aus Verbal- und Nominalstil, um eine gewissen Anspruch zu suggerieren sowie Aufbau eigener Kompetenz
(vgl. auch gelegentliche Intellektreize „Libertinage“)
Wortwahl: Standardvokabular,  Schlagworte „Niedergang der Sitten“, Sentenzen „Kind und Kegel“,  Leerformeln  
„Wir alle sind Menschen“;  signalisiert so Vertrautheit, sucht Nähe zu volkstümlichen Begriffs- und Wertekategorien,  
fördert und bestätigt Vorurteile einer gewissen Klientel.
Auffällige Merkmale: Anonymität des Angriffs: Neben passivischen Satzkonstruktionen werden zur Erzeugung eines Feindbildes
personifizierte Abstrakta „American way of life“,  pauschalisierend als weitere Verantwortliche „die Kirchen“ und führende
CSU - Politiker gewählt. Zur „Beweisführung“ muss die Autorität des Vorsitzenden  „Ich habe es ...wiederholt erlebt“ genügen
(neben einer gewissen Hybris Schönhubers zeigen sich auch deutliche Indizien für autoritäre Führungsstrukturen).
Raffiniertes Spiel mit der Wir-Gruppe: zunächst „wir Bürger“ und danach „wir Republikaner“. Einzelmerkmale: Metaphern
"Karre der Werbeindustrie“, Allusionen „Und wer wirft den ersten Stein“, Chiasmen (vgl. Z. 1,2 u. 10,11), Alliteration und
Akkumulation (Z.6), Metaphern und Parallelismus im Schlussteil etc.; Einmengen traditioneller Elemente zur Erhöhung der Einprägsamkeit
Resümee: Insgesamt sind derartige Mittel bei unkritischen Lesern geeignet, die inhaltliche Leere und Substanzlosigkeit der Position zu
überdecken, insbesondere den Mangel an konkreten Handlungsentwürfen (vgl. auch Abschaffung der Fernsehgebühren !?).
Dieser Text ist auch als Versatzstück für polit. Reden geeignet; Aufgreifen populistischer Strömungen auf dem Niveau von
Stammtischgesprächen: ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem (zunehmende Darstellung von Gewalt und Sexualität in den Medien)
wird thematisch besetzt, nur um es letztlich für eigene Interessen zu instrumentalisieren; infamer Angriff gegen kirchliche Institutionen,
Missbrauch der Pressefreiheit; Scheinheiligkeit als Schlüsselwort: hier Umkehrung der Sachverhalte.
Fazit: übelste Polemik und Demagogie im „modernen Gewand, die sich als Retterin moralischer Werte gebärdet; Schönhuber
als „Wertekonservativer“ getarnt; die Raffinesse des Vorgehens sollte konstatiert werden; erwartet wird eine klare inhaltliche Distanzierung.